Von der Todsünde und Absolution

Damals musste ich so um die 10 Jahre alt gewesen sein. Es war Palmsonntag, Mutter weckte mich, denn ich sollte, wie jeden Sonntag zur Heiligen Messe gehen. Und da es Palmsonntag war trug sie mir auf, geweihte Palmzweige mitzubringen. Diese Palmzweige wurden meist hinter das Kreuz, was wir im Wohnzimmer hängen hatten und auch hinter das Weihwasserbecken des Schlafzimmers meiner Eltern gesteckt.

Ein Frühstück gab es nicht, da ich ja die heilige Kommunion bekommen wollte. Und da musste man eine Zeit lang nüchtern sein.
Ich bin dann losgegangen, mein Gebetbuch, was ich zur Erstkommunion von meinem Patenonkel Friedhelm und meiner so geliebten Tante Liss bekommen hatte, in der rechten Hand tragend, um zur Herz Jesu-Kirche zu gehen.
Es war ein sehr schöner April-Tag mit blauem Himmel und angenehmen Temperaturen. Die Sternstraße war ich schon hinunter gegangen und wollte gerade nach links in den Broicher Waldweg einbiegen, als ich auf meinen Freund Dieter S. stieß. Er fragte mich, wohin ich wollte bei diesem schönen Wetter. Ich antwortete ihm, dass ich um 10.00 Uhr zur Messe gehen würde. Dieter schaute mich verwundert an und sagte:
„Bei diesem herrlichen Wetter doch nicht, komm, ich lade Dich ein zu einem Eis.“ Mir wurde es ganz komisch. Einerseits fand ich die Einladung von Dieter recht gut, so ein Eis, ja das wäre es doch gewesen. Auf der anderen Seite, Pastor W. hatte immer gesagt, „wer am Sonntag nicht zur Kirche kommt, begeht eine Todsünde.“  Und solche Menschen kommen später nicht in den Himmel. Landen in der Hölle, oder mit viel Glück im Fegefeuer. Aufgrund dieser Gedanken, sagte ich zu Dieter: „Nein, danke, das wäre eine Todsünde.“ Dieter schaute mich an, packte meinen Arm und fragte: „Todsünde?“
„Es wäre eine Sünde, wenn du bei diesem schönen Wetter nicht auf meine Einladung reagieren würdest.“
Hin- und her gerissen, dachte ich nach. Ich wusste damals nicht warum, aber ich entschied mich für das Eis.
Und es war sehr lecker!
Ich schaute auf die Uhr, stellte fest, dass die Messe ja jederzeit beendet sein müsste.
Bin dann die Kirchstraße entlang in Richtung Sternstraße gegangen. In Höhe der Teutonenstraße fiel es mir siedend heiß ein.
Die Palmzweige! Die hatte ich total vergessen…
Beginnend an meiner Mission zu zweifeln, fiel mir der Garten von Pastor W. ein, er befand sich auf der Kirchstraße und war nur ein Katzensprung entfernt. Und genau dort wuchsen diese Palmzweige, die ich so unbedingt brauchte. Beim Abschneiden der Zweige mit meinem Schweizer Messer, welches ich meist dabei hatte, stellte sich dann schon erneut mein schlechtes Gewissen ein. Es stellte sich mir die Frage, ob ich nicht schon wieder eine Sünde beging.
Diesen Gedanken verdrängend schnitt ich die Palmzweige ab, ging dann schnellen Schrittes, das Gebetbuch in der rechten Hand, den dicken Strauß Palmzweige in der linken Hand tragend in Richtung Sternstraße.
„Nun“, dachte ich, „die Zweige sind ja eigentlich nicht gesegnet und somit nicht geweiht.“ Da fiel mir das Weihwasser ein, was im Keller stand und von einer Tante aus Lourdes mitgebracht worden war.
Zu Hause angekommen, schlich ich mich also in den Keller und sprenkelte mit den Händen das Weihwasser aus Lourdes über den Strauß der Palmzweige. Dabei vergaß ich auch nicht ein Gebet zu sprechen.
Die Freude meiner Mutter war groß, als sie den großen Strauß der Palmzweige sah. Sie war voll des Lobes und mein Sonntag verlief sehr harmonisch.
Doch dann kam die Nacht, ich konnte nicht schlafen, weil mich mein schlechtes Gewissen quälend peinigte. Das setzte sich die Woche über fort. Um mich davon zu befreien entschloss ich mich dann Ostersamstag zur Beichte zu gehen.
Nun wollte ich natürlich nicht gerade bei Pastor W. beichten gehen, deshalb wählte ich den Beichtstuhl des Kaplans R.! Irgendwann war ich auch dran, betrat den Beichtstuhl und kniete mich nieder um meine Sünden zu beichten. Den Kaplan konnte ich nicht sehen, da gab es nur eine Abtrennung aus Holz mit so kleinen ausgesparten Löchern.
Gerade hatte ich das „Schwänzen“ der Messe mit dem anschließenden Diebstahl der Palmzweige gebeichtet, als plötzlich die Vordertür des Beichtstuhles lautstark aufging. Hinter mir wurde die Eingangstür aufgerissen. Irgendjemand zerrte mich unsanft aus dem Seitenteil des Beichtstuhles, und ich bekam links und rechts was um die Ohren. Ich traute meinen Augen nicht, Pastor W. stand vor mir, er hatte im Beichtstuhl des Kaplans gesessen.
„Sie hier, Herr Pastor?"
Der Pastor erwiderte:  „Ja, ich bin es, mein Beichtstuhl ist defekt. Und die Ohrfeigen waren für meine Palmzweige! Betrachte es als Absolution. Dazu betest du noch 20 Vater Unser."
Anschließend wieder im Beichtstuhl, erfolgte dann noch das Übliche:
„Gott, der barmherzige Vater, hat durch den Tod und die Auferstehung seines Sohnes die Welt mit sich versöhnt und den Heiligen Geist gesandt zur Vergebung der Sünden. Durch den Dienst der Kirche schenke er dir Verzeihung und Frieden. So spreche ich dich los von deinen Sünden, im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.“
Sichtlich erleichtert, dass meine Schuld somit vergeben war, trat ich den Heimweg an. Und hatte in der Folge ein schönes Osterfest. Das war übrigens meine letzte Beichte gewesen. Und die Ohrfeigen habe ich sehr sportlich angenommen, schließlich war ich ja irgendwie der Auslöser. Und der Pastor hatte darüber hinaus sehr viel für die Jugendarbeit getan.



© Manfred Wrobel